Deutschland muss lernen, dass der Osten eine eigene Geschichte hat: Eine Absage an westdeutsche Überheblichkeit
Ostdeutsche seien freiheits- oder gar demokratiefern. Das zumindest ist die Diagnose so mancher Experten, vornehmlich und noch lauter geäußert nach Wahlen mit Wahlergebnissen, die so nicht geplant oder vorgesehen, gewollt oder gewünscht sind. Ostdeutschen nach eindeutig demokratischen Wahlen Demokratieferne vorzuwerfen, ist das eine. Eine beharrliche Ignoranz oder Weigerung der Auseinandersetzung mit den wesentlichen, inhaltlichen Ursachen bestimmter Wahlpräferenzen, ist das andere. Beides wiegt schwer.
Eine von mir für mein Buch „Rolle rückwärts DDR?“ beauftragte INSA-Umfrage ergab, dass sich fast jeder zweite Ostdeutsche (46 Prozent) heute wieder an Zustände wie in der ehemaligen DDR erinnert fühlt. Im 35. Jubiläumsjahr des Mauerfalls ist das mehr als alarmierend. Doch kann, ja darf man die Verhältnisse in der ehemaligen DDR und im heutigen Deutschland vergleichen? Schon die Frage wird kontrovers diskutiert.
Ich meine: Natürlich kann und soll man sie vergleichen. Denn Vergleichen bedeutet nicht Gleichsetzen. Vergleichen heißt, Unterschiede und Gemeinsamkeiten sichtbar machen. Die fast schon reflexhaft angestrengten Ablenkungsmanöver auf eine angebliche Unsäglichkeit oder Obszönität solcher Ost-West oder gar Diktatur-Demokratie-Vergleiche helfen daher zwar kurzfristig, solche eindeutigen Ergebnisse zu übergehen. Ignorieren lassen sie sich dennoch nicht.
Unter jenen Ostdeutschen jedenfalls, die sich an Zustände der DDR erinnert fühlen, sind es laut diser INSA-Umfrage für
- 71 Prozent zu viele Vorgaben des Staates bezüglich der Lebensweise der Bürger,
- 68 Prozent die Angst, die eigene Meinung zu sagen,
- 60 Prozent die Propaganda für die Bundesregierung durch den staatlichen Rundfunk,
- 56 Prozent zu viele staatliche Eingriffe in die Wirtschaft und
- 21 Prozent zu viele staatliche Eingriffe in anderen Bereichen, die sie erinnern lassen.
Ostdeutsche sind keine Demokratiefeinde!
Ich selbst bin in Eisenhüttenstadt (Land Brandenburg) geboren und aufgewachsen. Dank meines nun jahrzehntelangen Wohnsitzes in Hessen fühle ich mich heute als Hessische Brandenburgerin oder Brandenburger Hessin und damit hier und noch immer dort zuhause. Wohl auch deshalb gleiten Demokratieferne-Unterstellungen nicht so einfach an mir ab. Erst recht nicht, bescheinigte selbst der ehemalige Ostbeauftragte der Bundesregierung Marco Wanderwitz im Jahr 2021 den Ostdeutschen ganz offiziell „gefestigte, nicht demokratische Ansichten“ und eine „vertiefte Grundskepsis“ gegenüber der Politik und der Demokratie.
Eine irritierende Zuschreibung eines Ostbeauftragten, der als Koordinator der Bundesregierung für den Aufbau Ost zuständig zeichnet.
Der Ostbeauftragte verliert seinen Sinn
Mit einer Bilanz, wonach bis heute, 35 Jahre nach dem Mauerfall, die Wirtschaftskraft Ostdeutschlands noch immer weit hinter der Wirtschaftskraft Westdeutschlands her hinkt und es noch immer kaum Ostdeutsche in die Führungsetagen wichtiger, auch Ostdeutscher Unternehmen geschafft haben. Braucht der Osten tatsächlich immer noch dieses Feigenblatt besonderer Fürsorge? Demokratieferne-Äußerungen und das schmale Ergebnis bei der Angleichung der Wirtschafts- und Lebensverhältnisse lassen an der Sinnhaftigkeit eines expliziten Ostbeauftragten jedenfalls sehr zweifeln.
Werden dann auch noch Migrationsvergleiche, selbst im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk angestellt, kann das Unbehagen durchaus auch schon mal zu einem erheblichen Unmut anwachsen.
Ostdeutsche und Migranten sind nicht das Gleiche
Nicht wirklich in Deutschland angekommen zu sein, dieses Gefühl teilten „viele Ostdeutsche“ mit „Menschen mit Migrationsgeschichte“, stellte der Moderator Sirin in seiner Sendung zur Deutschen Einheit aus der Reihe Am Puls mit Mitri Sirin im Jahre 2023 fest, wobei sich 50 Prozent der Ostdeutschen laut einer in dieser Sendung zitierten Umfrage als „Bürger zweiter Klasse“ fühlen. Es braucht wohl keine Erklärung für das sich daraus ergebene Störgefühl, sich als Ostdeutscher in einem Topf mit Menschen mit Migrationshintergrund wieder zu finden. Es braucht auch keine Rechtfertigung dieses Störgefühls, werden damit weder Menschen mit Migrationshintergrund herabgesetzt noch Ostdeutsche über sie erhoben. Doch sagen solche Gleichsetzungen mehr über das eigentliche Problem aus, als dass sie zur Lösung eines wirklichen Zusammenwachsens beitragen könnten. Schließlich werden Unterschiede dort manifestiert, wo es sowohl um ein gegenseitiges Verständnis als auch um die Aufarbeitung einer gemeinsamen gesamtdeutschen Geschichte gehen sollte.
Unsichtbare Grenze scheint noch zu existieren
Da ist es kaum verwunderlich, dass es auch heute noch eine unsichtbare Grenze zwischen Ost und West zu geben scheint. Als Steinmauer abgetragen zwar, aber noch immer da. Eine Grenze, die die Menschen und ihre Geschichten, ihre Wut, die sie teilweise noch immer oder wieder in sich tragen, sicht- und spürbar macht. Es geht dabei um verpasste Chancen, um übersehene Notwendigkeiten und um die große Kraftanstrengung, die viele Ostdeutsche hinter sich haben, um im neuen Leben der Bundesrepublik anzukommen. Ein Leben, dass sich mit dem Beitritt Ostdeutschlands zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 GG am 3. Oktober 1990 fundamental änderte. Die DDR verschwand damit zwar als eigenständiges Land von der Landkarte eines jeden Geografen, aus den ostdeutschen Köpfen verschwand sie damit jedoch bis heute nicht.
Dort, wo noch im Oktober 1989 mit großem Aufmarsch und russischem Besuch das vierzigjährige Bestehen der sozialistischen DDR laut und monumental zelebriert worden war, war nur zwölf Monate später nichts weiter als kapitalistische BRD. In nur elf Monaten zwischen dem Fall der Mauer am 9. November 1989 und der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 hatte sich für damals rund 16 Millionen Menschen das Leben grundlegend und teilweise radikal schmerzhaft gewandelt. Manche Ostdeutschen waren an diesem Wandel aktiv beteiligt, andere haben in nahezu atemloser Schockstarre beobachtet und wieder andere ungläubig gehofft und gebangt ob der Chance, die sich hier einmalig zu eröffnen schien. Diese eine Chance, nun endlich ein Teil des westlichen, demokratischen Welt- und Wertegefüges zu werden, mit all seinen bis dahin für die meisten DDR-Bürger schier unerreichbaren, auch wirtschaftlichen Möglichkeiten.
Von der Vollbeschäftigung zur Massenarbeitslosigkeit
Dort, wo noch im Oktober 1989 mit großem Aufmarsch und russischem Besuch das vierzigjährige Bestehen der sozialistischen DDR laut und monumental zelebriert worden war, war nur zwölf Monate später nichts weiter als kapitalistische BRD. In nur elf Monaten zwischen dem Fall der Mauer am 9. November 1989 und der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 hatte sich für damals rund 16 Millionen Menschen das Leben grundlegend und teilweise radikal schmerzhaft gewandelt. Manche Ostdeutschen waren an diesem Wandel aktiv beteiligt, andere haben in nahezu atemloser Schockstarre beobachtet und wieder andere ungläubig gehofft und gebangt ob der Chance, die sich hier einmalig zu eröffnen schien. Diese eine Chance, nun endlich ein Teil des westlichen, demokratischen Welt- und Wertegefüges zu werden, mit all seinen bis dahin für die meisten DDR-Bürger schier unerreichbaren, auch wirtschaftlichen Möglichkeiten.
Am 18. März 1990 fanden die ersten wirklich demokratischen Volkskammerwahlen auf dem Gebiet der DDR statt und die Konservativen siegten nach ihrem Wiedervereinigungswahlkampf fulminant. Der Wille der Ostdeutschen war klar, der Weg nicht so sehr. Die erst noch am Runden Tisch erdachte Treuhandanstalt nahm für die rund 8.500 volkseigenen Betriebe in ihrer neu definierten Aufgabe ihre Arbeit auf, schließlich sollte die im Wahlkampf versprochene schnelle Wiedervereinigung auch vollzogen werden.
Im Osten wird zurückgebaut
Prägnante Zahlen der vollendeten Treuhandarbeit, die zu einigen gesellschaftlichen Verwerfungen führten und bis heute führen, sind wohl die 30 Prozent stillgelegter Betriebe und die 80 Prozent westdeutscher gegenüber 5 Prozent ostdeutscher Investoren. Insbesondere zahlreiche kostenintensive, traditionelle Industriebranchen im Textil-, Metall-, Chemie- und Maschinenbausegment wurden restrukturiert beziehungsweise stillgelegt, was Diskussionen um eine drohende „Deindustrialisierung“ Ostdeutschlands befeuerte. Bis heute.
Wie grundverschieden die Umstände in Ost und West waren, zeigt sich eindrücklich bei einem Vergleich meiner alten mit meiner neuen Heimatstadt. Während im brandenburgischen Eisenhüttenstadt ganze Straßenzüge und Schulen dem Erdboden gleichgemacht und abgerissen wurden, stand und steht im hessischen Oberursel der dringend notwendige Wohnungsbau und der weitere Ausbau der Schulen aufgrund der stetig wachsenden Zahl an Einwohnern und Schülern nahezu täglich auf der kommunalpolitischen Tagesordnung. Man muss kein promovierter Psychologe sein, um zu ergründen, wo mehr Depressivität herrschte. Sicherlich kann argumentiert werden, dass es auch wenig prosperierende westdeutsche Städte gibt. Dennoch bleibt der Unterschied, dass im Osten Deutschlands viele Orte aktiv und teilweise massiv zurück gebaut wurden, während die Orte im Westen nicht oder nur langsam wuchsen. Eisenhüttenstadt hat seit der Wende die Hälfte ihrer Einwohner verloren. So auch mich.
Nicht selten wird die Annahme in den politischen Raum gestellt, wonach Ostdeutsche sich nach einer starken Hand oder besser noch einem starken, ja autoritären Staat sehnten.
71 Prozent sehen zu viele Vorgaben des Staates
Dabei sehen 71 Prozent den befragten Ostdeutschen zu viele Vorgaben des Staates bezüglich der Lebensweise des Bürgers, als wesentlichen, negativ mit ihren Erinnerungen assoziierten Bereich. Verbote, Gebote, Vorschriften und Moral hinsichtlich des eigenen Denkens und Handelns sowie die Definition der „richtigen“ Haltung haben nun aber in erster Linie linke und grüne politische Kräfte perfektioniert. Würde eine starke, verbietende und vorschreibende Hand also tatsächlich der allgemeine und grundlegende Wunsch Ostdeutscher sein, müsste der Osten dann politisch nicht ganz andere demokratische Mehrheiten hervorbringen?
Der Versuch, die individuelle Freiheit entweder als Privileg zu sehen oder neu und im solidarischen Sinne zu definieren, kann dem ein oder anderen Ostdeutschen möglicherweise auch ein Déjà-vu bescheren, welches er heute mit demokratischen Mitteln abwählen kann. Sich als politische Kraft diesem Trend anzuschließen, kann mindestens hinderlich sein, die Zustimmungswerte für die eigenen politischen Positionen zu steigern.
Es mag Menschen (übrigens auch in Westdeutschland) geben, die sich (wieder) mehr Autorität im Staat wünschen, Demokratie als zu anstrengend im Ringen um die beste politische Lösung erachten oder mit der ihnen gegebenen individuellen Freiheit nichts anzufangen wissen, diese daher gerne ausschließlich solidarisch, gemeinschaftlich betrachten. Doch ist es bemerkenswert, wie viele Erklärungsversuche es gerade für die Wahlentscheidungen Ostdeutscher gibt, vor allem, da sie allesamt den persönlichen Befindlichkeiten dieser Wähler zuzuordnen sind.
Demokratie heißt auch, das Volk mitzunehmen
Inhaltliche Ansätze scheinen entweder zu abwegig, oder sie sind zu aufwendig, erfordern sie doch eine tatsächliche Auseinandersetzung mit den Themen, Bedürfnissen, Befürchtungen und Erwartungen Ostdeutscher Wähler. Demokratie heißt eben auch, das Volk bei politischen Entscheidungen mindestens mitzunehmen. Eine Bedingung, die den etablierten Parteien möglicherweise nur unzureichend gelingt, zu erfüllen.
Beständig wird Ostdeutschland auch Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit zugeschrieben. Diese Phänomene gibt es, zweifellos, und die Bilder aus Rostock-Lichtenhagen oder die Herkunft der NSU-Terroristen sind erschütternde Realität. Doch die Wehrsportgruppe Hoffmann, Solingen, Hanau oder die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke 2019 zeigen, dass Neonazismus ein gesamtdeutsches Problem ist.
Möglicherweise finden Begriffe wie Patriotismus, Vaterland oder Liebe zu Deutschland im Osten mehr Zuspruch als im Westen. Vielleicht ist hier die Angst vor zu viel integrationsunwilliger Fremdheit auch größer als im Westen. Aber wäre der Osten damit nicht näher an der europäischen Realität als der Westen? „Wir sind ein Volk“, riefen die Montagsdemonstranten in Leipzig und anderswo, als es nicht mehr um die Ablösung der SED, sondern die Wiedervereinigung ging. Man sehnte sich im Osten nach der nationalen Einheit – und stellte nach dem 3. Oktober 1990 sehr schnell fest, dass man im Westen dieser ersehnten Nation bereits überdrüssig schien.
Teilungsgeschichte braucht bessere Aufarbeitung
Statt sich um die vermeintlich anderen oder anders gelagerten Befindlichkeiten der Ostdeutschen zu kümmern, braucht es 35 Jahre nach dem Mauerfall eine ehrliche Bestandsaufnahme zur gemeinsamen Aufarbeitung der gesamtdeutschen Teilungsgeschichte. Es ist ein Trugschluss anzunehmen, dass ostdeutsche Geschichte nur die Geschichte der Ostdeutschen ist. Ostdeutsche Geschichte ist Geschichte und damit Vergangenheit ganz Deutschlands. So, wie das westdeutsche Wirtschaftswunder Teil der deutschen Geschichte ist, ist es auch die ostdeutsche Planwirtschaft. So wie Kapitalismus Teil der gesamtdeutschen Geschichte ist, ist es auch Sozialismus. Und so wie Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie Teil der gesamtdeutschen Geschichte sind, sind es genauso auch Unterdrückung, Kontrolle und Autokratie. Wollen wir daraus lernen, müssen wir akzeptieren, dass wir eine gemeinsame Geschichte haben ohne die Zuschreibungen eines selbstbewussten, überheblichen Wessis oder eines opferbelegten, benachteiligten Ossis.
https://www.nius.de/news/deutschland-muss-lernen-dass-der-osten-eine-eigene-geschichte-hat-eine-absage-an-westdeutsche-ueberheblichkeit/1aca5d46-44c0-4cb2-9c07-e75dfe7acce7